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Nicht über den Kopf hinweg
Artikel für die Zeitschrift DIe Schwester/Der Pfleger von Doro Schulte

Bei einem Locked-In-Syndrom sind Patienten vollständig gelähmt, aber bei klarem Verstand. Zwei Krankheitsgeschichten zeigen, wie wichtig es ist, diesen Zustand zu erkennen und Betroffenen Mut zu machen, sie zu motivieren, respektvoll zu behandeln und geduldig „zu Wort“ kommen zu lassen, auch wenn sie nicht sprechen können.
Zwei Menschen, ein ähnliches Schicksal: Jürgen Manthey befand sich im Oktober 2004 auf einem Landrover Treffen, als er plötzlich unerträgliche Kopfschmerzen bekam. Bis zu diesem Tag stand der damals 36-Jährige mitten im Leben. Noch vier Wochen zuvor hatte er seiner Lebensgefährtin einen Heiratsantrag gemacht. Beruflich befand er sich kurz vor der Prüfung zum Steuerberater, hatte gerade sein eigenes Büro eröffnet. Dr. Karl-Heinz Pantke war mit 39 Jahren bereits verheiratet und promovierter Physiker. Er war im März 1995 zuhause mit seiner Steuerklärung beschäftigt, als ihn Übelkeit überkam. Bei beiden Männern verstopfte in diesen Momenten ein Blutgerinnsel in ihrem Kopf eine Ader. Sie erlitten einen so schweren Schlaganfall, dass sie von einem Tag auf den anderen am ganzen Körper gelähmt, aber bei vollem Bewusstsein waren.
Locked-In-Syndrom (kurz LIS) nennt sich der Zustand. Er entspricht einer höchstmöglichen Querschnittslähmung. Übersetzt ins Deutsche heißt das „eingesperrt“ oder „eingeschlossen“. Betroffene Patienten bekommen alles, was um sie herum vorgeht, mit. Sie können sich aber aufgrund der Unfähigkeit, sich zu bewegen, der Außenwelt nicht mitteilen. Ist die Lähmung komplett, sind willentlich nur noch vertikale Blickbewegungen und Augenöffnen beziehungsweise Blinzeln möglich, bei einem inkompletten gibt es noch eine zusätzliche willkürliche Restmotorik. Bei einem totalen LIS hingegen können die Patienten nicht einmal mehr ihre Augen bewegen.
Jedoch selbst, wenn Bewegungen möglich sind, müssen Umstehende erst einmal erkennen, dass der Betroffene bei klarem Verstand ist. Stufen sie den Zustand des Patienten irrtümlich als Koma, Wachkoma oder Minimal Concious State ein, kann das fatale Folgen haben. So kann die Diagnose einer solchen schweren geistigen Hirnschädigung dazu führen, dass Ärzte und Angehörige sich im späteren Verlauf – ohne den Willen des Kranken zu kennen – für einen Therapieabbruch entscheiden. Besonders dann, wenn der Patient im Vorfeld in einer Verfügung lebensverlängernde Maßnahmen einschließlich Beatmung im Fall einer dauerhaft schweren geistigen Beeinträchtigung abgelehnt hat.
Wachkoma in Wahrheit Locked-in?
Genaue Statistiken über die Häufigkeit des Auftretens eines solchen Syndroms gibt es laut Dr. Martin Groß, Chefarzt der Klinik für Neurorehabilitation am Evangelischen Krankenhauses Oldenburg, nicht. Man schätze jedoch, dass jeder 100.-1000.Schlaganfall mit einem LIS verbunden sei, die Dunkelziffer sei wahrscheinlich sehr hoch. „Ein totales Locked-in-Syndrom ist durch in Augenscheinnehmen des Patienten selbst von einem Experten nicht von einem Wachkoma zu unterscheiden“, sagt Groß. In der Praxis führe das zu Fehldiagnosen. „Schätzungen gehen davon aus, dass 30–40 % der Diagnosen ‚Wachkoma‘ fehlerhaft sind“, so der Neurologe.
Manthey und Pantke blieb eine Fehldiagnose erspart. Beide konnten schon nach kurzer Zeit ihre Augen bewegen und Angehörige und Personal merkten früh, dass sie bei klarem Verstand waren. Dennoch empfanden sie ihren Zustand als unerträglich. „Der Locked-in-Patient ist zur totalen Unfähigkeit verdammt. Eine der schlimmsten aller Strafen“, formuliert das Pantke im Nachhinein. Als Wissenschaftler war er es gewohnt, für seinen Verstand von anderen geachtet zu werden. Auf einmal unterhielten Ärzte sich über ihn an seinem Bettrand über seinen Kopf hinweg.
Hoffnung als Strohhalm
Bis heute überfallen ihn immer wieder depressive Phasen und an diese erste Zeit nach dem Schlaganfall zurückzudenken, fällt ihm besonders schwer. Was ihm damals half, waren vor allem zwei Dinge: Die unermüdliche Unterstützung durch seine Frau und seine Hoffnung auf Besserung. Beides wollte er unter keinen Umständen auch noch verlieren. Seine Frau war zunächst das einzige, das ihm aus seinem früheren Leben geblieben war. Und seine Hoffnung war der Strohhalm, an den er sich klammerte, und der ihn davon abhielt, sich den Depressionen hinzugeben.
Je nach Ursache besteht eine Chance, dass sich ein LIS zurück bildet. Auch fortschreitende Erkrankungen des zentralen Nervensystems, wie die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) oder die Multiple Sklerose (MS) können in einem späten Stadium zu einer so weitgehenden Immobilität führen. Im Gegensatz zu einem LIS aufgrund eines Schlaganfalls, haben Betroffene hier aber keine Aussicht auf Besserung. Außerdem geraten sie langsam in diesen Zustand, sind vorher darüber informiert und können ihren Willen dazu äußern. .
Wenn, wie bei Manthey und Pantke, ein Hirninfarkt (meist eine Thrombose der Arteria basilaris) dahinter steckt, ist die Prognose zumindest besser. Ist der Infarkt ischämisch, also durch ein Blutgerinnsel und nicht durch eine Blutung, ausgelöst, kann eine unverzügliche Lysetherapie zu einer sofortigen Besserung führen. Auch langfristig sind Fortschritte möglich. Denn durch ein anhaltendes Training, wie neurologische Krankengymnastik nach Bobath oder Logopädie, können Patienten manche Bewegungen wieder neu erlernen.
Der Verlauf lässt sich nicht vorher sagen
An der Klinik für Neurorehabilitation am Evangelischen Krankenhauses Oldenburg nutzen die Therapeuten das sogenannte ‚Affolter-Modell‘. Dabei führen die Patienten Bewegungen auf Aufforderung zunächst selbst aktiv nur imaginär aus, während die Therapeuten ihren Körper dabei führen. In manchen Fällen gelingt es den Betroffenen, durch ein intensives Training selbst wieder die Kontrolle zu übernehmen und bestimmte Bewegungen durchzuführen. Ob und in welchem Maß ein solcher Erfolg eintritt, lässt sich zunächst aber nicht sicher sagen. „Der Verlauf ist extrem individuell“, sagt Groß, „es gibt hier praktisch nichts, was uns überraschen könnte.“
Einer der schlimmsten Momente seit seinem Schlaganfall war für Manthey, als ein Arzt im Krankenhaus zu ihm gesagt habe: „Sie werden für den Rest ihres Lebens im Bett liegen und an die Decke starren.“ Er hat nicht Recht behalten. Zwar stellt für das Paar noch heute jeder Tag einen Kampf dar und „wenn er es sich aussuchen könnte, hätte Manthey seinen Schlaganfall damals nicht überlebt“, sagt seine Frau. Aber beide versuchen das Beste aus ihrem Schicksal zu machen. Manthey kann heute seinen Kopf ein bisschen bewegen und „mit Flüsterstimme sprechen. „An guten Tagen“ können die beiden sogar telefonieren. Versuche, wieder laufen zu lernen, hat er allerdings aufgegeben. Auch ein Jahr in einer Reha-Einrichtung – wo die beiden heirateten – hatte da keinen Erfolg gebracht. Seine Arbeit wieder aufzunehmen, hat er nach einigen versuchen ebenfalls aufgeben müssen. „Es gab einfach zu viele Hindernisse“, erzählt seine Frau.

Begleithund schenkt Freiheit
Eine gewisse Selbständigkeit schenken ihm technische Hilfsmittel, wie ein Hightech-Rollstuhl und ein daran befestigter Roboterarm. Seinen Computer bedient er über eine Mini-Infrarot-Kamera auf seiner Brille, den Rollstuhl über einen kleinen Ball an seinem Kinn. Aber vor allem sein ständiger Begleiter, der Labrador Minou, hilft ihm, seinen Alltag zu meistern. Der Hund kann zum Beispiel den Fußgängerknopf an Ampeln bedienen, Mantheys Computer anschalten und die Klettverschlüsse öffnen, die die Beine seines Herrchens an seinem Rollstuhl fixieren. Minou erkennt die Bedürfnisse Mantheys über Schnarch-Geräusche, die er von sich geben kann oder seine Flüsterstimme. Oft verstehen die beiden sich aber auch wortlos. Sie sind ein eingespieltes Team und unternehmen gemeinsame Sparziergänge ohne Hilfe von anderen.
Pantke kann heute wieder sprechen und gehen. Er ist Vorsitzender des Vereins LIS e.V., den er im Jahr 2000 selbst gegründet hat und der sich zum Ziel gesetzt hat, dass die Interessen von Menschen mit Locked-in-Syndrom besser wahrgenommen werden. Zudem hält er Vorträge über LIS auf Kongressen, engagiert sich in Selbsthilfegruppen und hat er mehrere Bücher über die Krankheit geschrieben. Um so weit zu kommen, hat er gekämpft wie ein Löwe. Täglich bis zu acht Stunden Therapie haben ihn wortwörtlich wieder auf die Beine gebracht. Auch er bekam einmal die Aussage zu hören, er müsse sich mit seinem Zustand abfinden. Daraufhin habe er unter einer so großen Angst gelitten, wie er das vorher noch nie erlebt habe, schreibt er in seinem Buch „Locked-in – Gefangen im eigenen Körper“, in dem er seine eigene Krankheitsgeschichte erzählt. Diese Worte hätten den Alptraum seiner Krankheit zu einem Horrortrip gemacht.
Menschwürde von großer Wichtigkeit
Neben Ängsten belastete ihn auch das Gefühl, in seiner Menschenwürde eingeschränkt zu sein, etwa wenn Ärzte Dinge über seinen Kopf hinweg entschieden. „Als besonders entwürdigend empfand ich es, dass ich immer wieder Untersuchungen über mich ergehen lassen musste, die aufgrund von Zweifeln bezüglich meines Geisteszustands durchgeführt wurden“, schreibt er an einer anderen Stelle des Buchs. Sobald er seine Finger wieder bewegen konnte, schrieb er Briefe an das medizinische Personal, in denen er unter anderem immer wieder betonte, „im Vollbesitz seines Willens“ zu sein und nicht, wie der Volksmund so schön sage, „nicht alle Tassen im Schrank zu haben.“ Positiv empfand er, wenn Mitarbeiter ihn mit seinem Doktortitel ansprachen, weil er so das Gefühl hatte, geistig für voll genommen zu werden.
Im schlimmsten Fall bleibt ein LIS-Patient tatsächlich dauerhaft vollständig bewegungsunfähig. Dann kann eine Besserung nur noch darin bestehen, die Lebensqualität trotzdem zu steigern. Auch diesen Menschen eine Stimme zu verleihen und Selbstständigkeit zu schenken, ist ein Ziel von Prof. Niels Birbaumer. Der Verhaltensneurobiologe arbeitet dabei wortwörtlich mit der Kraft ihrer Gedanken. Über sogenannte Brain-Computer-Interfaces (BCIs), also Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer, trainiert er mit gelähmten Patienten so lange bestimmte Fragestellungen, bis der Computer mit relativer Sicherheit ein gedachtes Nein von einem Ja unterschieden kann.
Computer lassen das Gehirn sprechen
„Wir stellen dabei immer wieder einfache Fragen, wie ‚Ist Berlin die Hauptstadt Deutschlands?‘“, erklärt Birbaumer, der eine Seniorprofessur an der Uni Tübingen innehat. Dabei befestigen die Wissenschaftler dem Patienten Elektroden am Kopf und leiten seine Hirnströme über einen Verstärker in den Rechner. Zusätzlich kommen Nahinfrarotgeräte zum Einsatz, die Laserimpulse durch den Kopf schicken. Wenn der Computer bei den Fragen mit bekannter Antwort zu 70 Prozent richtig liege, folgten dann offene Fragen, wie: „Haben Sie Schmerzen?“ oder „Sind Sie traurig?“. Auf diese Weise können komplett Gelähmte nicht nur ihre Gedanken äußern, sondern sogar lernen, durch intensives Denken Hilfsmittel, wie etwa eine Armprothese, zu steuern.
Bis sich solche Erfolge einstellen, brauche es allerdings viele Monate, so Birbaumer. „Wir versuchen auch die Angehörigen zu schulen“, erzählt er, um die Gelähmten langfristig bei sich zuhause zu unterstützen. Mittlerweile gebe es Geräte im freien Handel, die Krankenkassen müssten die Kosten dafür tragen und Ingenieure würden bei der Anwendung behilflich sein. Aber die Tübinger Wissenschaftler können lange nicht alle infrage kommende Personen trainieren und weltweit gebe es seines Wissens nach außer seiner Gruppe nur in Japan noch ein Team, das mit Gelähmten arbeite.
Recht auf Selbstbestimmung
Dass nicht jeder Mensch, der bei klarem Verstand an seinem ganzen Körper gelähmt ist, noch genug Lebenswille hat, um nicht aufzugeben, ist zu vermuten. Manthey hat das, jetzt wo er wieder sprechen kann, für sich klar geregelt. „Er möchte irgendwann selbst bestimmen, wann er die Schnauze voll hat“, sagt seine Frau.
Brain-Computer-Interfaces ermöglichen, auch den Willen von Patienten mit totalen LIS herauszufinden. Dazu müssen, wie gesagt, Außenstehende aber erst einmal erkennen, dass ein Gelähmter bei Bewusstsein ist. Jeder Arzt solle sich die Mühe machen, über mehrere Tage ein EEG abzuleiten, die Angehörigen nach ihren Eindrücken zu fragen und intensiv zu beobachten, ob Augenbewegungen gezielt seien, bevor er Diagnosen wie Koma, Wachkoma oder Minimal Concious State stelle, findet Birbaumer. Eine Fehlerquote von einem Drittel ist hier eindeutig zu viel. Auch Pflegekräfte sind hier gefordert.